Die Torwachen von Burg Lyrgard lagen in ihrem Blut, die Schwerter steckten noch in ihren Gurten. Kreischende, weinende und um sich schlagende Menschen drängten sich an Agad vorbei, sie stießen andere achtlos beiseite in den Burggraben oder gegen die Mauer. Sie traten auf die Gestürzten, schlugen jene, die ihren Weg versperrten.
Agads Emon schrie auf, Schmerz fuhr in seinen Unterleib. „Was tut ihr, Lyrgarder“, keuchte er und stützte sich gegen die Mauer. Er kämpfte den Schmerz nieder und zwang sein Emon zur Ruhe. Er suchte nach einer frischen Erinnerung der Liebe, die er opfern konnte. Das Bild seiner Enkelin formte sich in Agads Gedanken: Larima, wie sie letzten Abend vor Varvan gestanden und mit ihm das Band Lyr’Emons um ihrer beider Hände gewickelt hatte. Wie er den Stiel einer weißen Rose zwischen die verhakten Finger flocht, bis die Dornen ihrer beider Blut vereinten. Wie sie zur gleichen Zeit den Schmerz erfuhren und lächelten.
„Lyrgarder!“ Der Weiße Ritter ließ Lyr’Emons Macht durch sich fließen. „Ich bin Agadmodar, der Weiße Ritter, Paladin Lyr’Emons. Ich befehle Euch Ruhe im Namen der Großen Göttin!“
Die Menge erstarrte. Jung und alt, Mann und Frau, alle in Agads Hörweite und ein gutes Stück darüber hinaus hielten inne und lauschten.
Agadmodar fühlte die Erinnerung verblassen, als er den Zauber weiterflocht. „Helft einander, anstatt euch zu zerfleischen. Lyrgard kann nicht fallen, wenn ihr zusammenhaltet.“ Das Bild war weg. Niemals wieder würde sich Agad an die Verlobung seiner Enkelin erinnern. Er spürte die Leere aufsteigen, doch er blendete sie aus. „Hat jemand die Königskinder gesehen?“
Alle begannen sie zur gleichen Zeit zu sprechen, bis Agad die Hand hob und sie verstummten. Er zeigte auf einen jungen Mann mit Ruß im Gesicht, der einen Feuervogel getragen haben musste.
„Es ging sehr schnell, Herr. Nach dem dritten Knall stürzten sich junge Männer mit Dolchen auf den Prinzen. Er konnte sich nicht wehren, weil er den Feuervogel trug. Einer stach auf ihn ein und dann stürzte der brennende Vogel auf sie und erschlug den Angreifer. Die anderen zogen den Prinzen unter den Trümmern hervor und schleppten ihn hoch zur Burg.“
„Zur Burg sagst du?“ Agad runzelte die Stirn und schritt in die Mitte des Burghofs. Die Menge teilte sich vor ihm. „Nun gut. Was ist mit Prinzessin Tilda? Prinz Fibb?“
Die Leute blickten einander an und zuckten mit den Schultern. Ein Mädchen hob die Hand und Agad nickte ihr zu. „Ein Ritter hat Fibb an der Hand geführt. Er trug einen Mantel in der Farbe von Aprikosen.“
„Ritter Gerschal“, sagte Agad. „Wohin brachte er ihn?“
„Auch zur Burg.“
Agad lief ein Schauer über den Rücken und die Leere wallte in ihm hoch. Er presste die Lippen zusammen und hoffte, der Zauber war nicht bereits verklungen. Er rief: „Geht und löscht die fallengelassenen Feuervögel, bevor sie die Stadt verschlingen. Helft einander. Und schickt jeden Kämpfer hoch zur Burg. Geht jetzt, beeilt euch!“
Der Weiße Ritter schloss die Augen. Die Menge floss an ihm vorbei, doch niemand wagte es, ihn zu berühren. Er fragte sein Emon, was es ihm riet.
„Agad!“ Urta und der blaue Ritter, Fentan, eilten auf Agad zu.
„Wo ist Tilda?“
„Sie ist uns entwischt“, sagte Fentan.
„Ein Mädchen von zwölf Jahren entkommt zwei Rittern des Prismas?“
„Als wir ihren Feuervogel erreichten, war sie bereits in der Menge untergetaucht“, erwiderte Urta. „Wir wurden von vier Männern mit Dolchen angegriffen. Als wir sie überwunden hatten, konnten wir die Prinzessin nirgends mehr entdecken.“
Agadmodar blickte zum Bergfried, wo ein Schrei ertönte, dann klirrte Eisen auf Eisen. „Das war Gerschal!“ Agad zog sein Schwert und stürmte auf das Gebäude zu. Er warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Fentan ihm folgte, den Kampfstab mit den blauen Bändern kampfbereit erhoben. Urta zögerte, dann folgte sie ebenfalls.
Agad preschte in den Rittersaal, das Schwert in Abwehrhaltung vor dem Körper. Er glitt aus und stürzte auf ein Knie, und ehe er sich erheben konnte, sah er den reglosen Körper, auf dessen Blut er ausgeglitten war. Vidans güldener Umhang hatte das Meiste aufgesogen und lag schwer auf dem Leichnam von Agads Freund. Der Weiße Ritter kniete sich nieder. Behutsam griff er nach einem schwarzen Splitter der zerbrochenen Sturmlampe, der auf Vidans Wange lag.
„Da“, hauchte Urta und wies auf einen weiteren Körper. „Gerschal. Und da, Raxana.“ Sie ging zum Kamin, wo der Körper der Zentaurin lag, während sich Fentan über Gerschal beugte.
Die Leere schwappte in Agad hoch, und zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt vermochte er ihr nicht zu widerstehen.
„Sie wurde von hinten erstochen“, sagte Urta. „Man hat die Rote Ritterin im Königspalast von Lyrgard gemeuchelt.“
„Die Zentauren werden außer sich sein“, murmelte der Weiße Ritter.
„Agad, er lebt.“ Fentan stemmte sich hoch und wühlte in seinem Beutel. „Gerschal lebt, kommt her!“
Agadmodar und Urta eilten zu Fentan und halfen ihm, Gerschals Bauchwunde zu verbinden.
„Kann dein Emon ihn retten?“, fragte Agad.
Fentan nickte. „Aber er wird nicht mehr der Gleiche sein. Die Klinge hat sein Emon getroffen.“
Gerschals blutige Hand hob sich zitternd in die Luft. „Agad.“
Der Weiße Ritter beugte sich über ihn.
„Charis“, flüsterte er. „Verrat.“
Agad blickte ungläubig zu Urta. Raxanas Knappin hatte sie verraten? „Wo ist der Prinz?“
Gerschals Finger schlossen sich, bloß der Zeigefinger zeigte hoch zum Gewölbe, hoch zum Thronsaal.
„Gehen wir“, sagte Agad zu Urta.
„Was ist mit Fentan?“
„Er kann nicht Gerschal retten und mit uns kämpfen. Ich kann nicht noch einen meiner Ritter opfern. Wir schaffen das alleine.“
Ungläubig blickte Urta zu Fentan, doch der Blaue Ritter hatte sich in sein Emon versenkt und die blauschimmernden Hände auf Gerschals Bauch gepresst.
Agadmodar schritt zur steinernen Treppe und bereitete sich auf den Kampf vor. „Rhovarr, Vater des gerechten Zorns, leihe mir deine Kraft.“ Agads Haut verhärtete sich, als das Emon der Wut ihm antwortete. „Aoro, Mutter von Trost und Trauer, schenke mir deine Gleichmut.“ Sein Herzschlag beruhigte sich, Gedanken an den Tod würden ihn nicht lähmen. „Talikki, jauchzendes Kind des Himmels, teile deine Jugend mit mir.“ Agads alter Körper hörte das Echo der Jugend hallen und wurde geschmeidig. „Vi’Enn, verlorene Schwester, warne mich vor Gefahr.“ Zuletzt rief er das Emon der Furcht an, auf dass es seine Reflexe schärfe. Er runzelte die Stirn – das Emon reagierte nicht. Er blickte zur Violetten Ritterin – sie blickte noch immer zu Fentan und schien den Aussetzer nicht bemerkt zu haben.
Kaum ein Mensch schaffte es, mehr als zwei Emons zur gleichen Zeit anzurufen. Agad zählte zu den Erlesenen, die alle sieben Gefühle in Einklang zu bringen vermochten. Dass Vi’Enn ihm nicht gehorchte war verwunderlich, war doch die Angst eines der simpelsten Gefühle, das selbst die Tiere kannten. Zürnte ihm die Göttin, weil er mit Urta ihre höchste Ritterin in Gefahr brachte? Das Grübeln half nichts, es kostete wertvolle Zeit. Wenn Vi’Enn sich ihm verweigerte, musste er den Kampf eben mit sechs Emons gewinnen. Er sandte Gedanken an die verbleibenden Emons. Phaond, die Abscheu. Sarenni, die Begierde. Und Lyr’Emon, die Liebe, deren Paladin er war. Alle drei Emons reagierten auf seinen Impuls, sie waren bereit und würden ihm dienen, wenn er sie rief.
Agadmodar zog sein Schwert. „Komm, Urta, es muss getan werden.“
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