Es war finster, es war kalt. Die Winternacht steckte in der dunkelsten Zeit, kurz bevor sie sich der Dämmerung zuneigte. Die Menschen auf der einen Seite der Königsstraße sahen die Menschen auf der anderen Seite nicht, sie hörten bloß ihr Keuchen und Husten, das Klappern der Kessel und das Glucksen des Wassers darin. Voller Erwartung harrten die Bewohner von Lyrgard aus und hielten Ausschau nach der Prozession der Feuervögel. Keiner von ihnen ahnte, dass ihr Reich den letzten Sonnenaufgang sehen würde.
An der Allee der Pracht hatte man eine hölzerne Tribüne errichtet für jene von Rang und Namen. Agadmodar, der Weiße Ritter, Paladin von Lyr’Emon und Erste Klinge des Königs, saß still in der hintersten von fünf Reihen. Er hielt die Augen geschlossen und horchte nach rechts, wo das Prasseln der Feuervögel erklingen würde. Er horchte nach links, wo vier Ritter seines Prismas mit schabenden Schritten auf und ab gingen. Er horchte nach vorne, wo Dralon, der Wappnerich von Fährnstieg, dröhnend auflachte. Und er horchte nach innen, wo sich sein Emon rührte: Ein Ziehen im Unterleib, kaum spürbar für jene, deren Emon nie erwacht oder geschult worden war, verriet dem alten Ritter, dass er wachsam sein musste.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Soll ich nicht nachsehen, Agad?“, sagte Vidan, der Gelbe Ritter. „Raxana müsste längst hier sein mit dem Königspaar.“
Agadmodar öffnete die Augen. Vidan hielt eine Sturmlaterne mit vom Ruß geschwärztem Glas. Sie spendete genügend Licht, damit man sich orientieren konnte, doch nicht soviel, dass es die Götter erzürnt und ihren Blick durchs Himmelsauge geblendet hätte. Agadmodar musterte seinen treuen Gefolgsmann. „Du traust ihr noch immer nicht?“
Vidan zog ein schmerzliches Gesicht. „Es ist schwierig, jemandem zu trauen, dem man auf dem Schlachtfeld gegenübergestanden hat, Agad.“
Der Weiße Ritter lächelte. „Zürnst du ihr wegen der Narbe an deinem Schenkel? Hättest du die Deckung nicht vernachlässigt, wäre dein Bein ohne Makel geblieben.“
„Nicht nur ich bin besorgt, Agad. Urta sagt …“
„Urta ist die Ritterin Vi’Enns. Sie macht sich ständig Sorgen.“ Agadmodar legte eine Hand auf den Bauch. „Ihr Emon kann nicht anders.“
„Gerade weil sie der Göttin der Furcht dient, sollten wir auf sie hören, Agad. Spürst du es denn nicht auch?“
Der Weiße Ritter seufzte. „Doch, ich spüre es, Vidan. Ich spüre es.“
Vidan setzte sich neben seinen Herrn, stellte die Lampe ab und zog seinen güldenen Mantel darüber, um das Licht zu verbergen.
„Ich spüre es seit einer Weile. Ein Schwarzer Ritter hat sich erhoben. Er ist mächtiger als die letzten beiden, aber er wird es nicht wagen, sich in der Hauptstadt zu offenbaren.“ Er fasste Vidans Oberarm. „Nicht, wenn ich und mein Prisma hier versammelt sind.“
„Maerin ist nicht hier …“, warf Vidan ein.
„Maerin ist kein Kämpfer. Er dient uns besser in Barinsstadt. Raxanas Knappin hat große Fortschritte gemacht, sie wird Maerins Platz an deiner Flanke einnehmen, wenn es zu einem Kampf kommen sollte.“
Ein Raunen ging durch die Menge zur Rechten der beiden Ritter. Heller Schein glomm auf den Hügeln im Nordosten: Die Prozession war auf dem Weg hinunter zur Stadt.
„Vielleicht schaust du doch besser nach, wo Raxana und das Königspaar bleiben“, sagte Agadmodar. „Treibe sie zur Eile an, sonst verpassen sie die Feuervögel ihrer Kinder.“
Vidan griff nach der Sturmlampe und wollte sich erheben, da hielt ihn der Weiße Ritter zurück.
„Ich teile deine Sorge, Vidan. Aber lass es die Menschen nicht spüren. Lyrgard hat einen kargen Winter erlebt wegen der Machtspiele der Wappneriche.“ Er wies mit dem Kinn zu Dralon, dessen bullige Gestalt sich drei Reihen weiter unten im Schimmer von Vidans Lampe abzeichnete. „Doch der Zollstreit ist beigelegt, der Frühling bringt neue Hoffnung, und die Lyrgarder sollen das Fest genießen.“
Vidan nickte, richtete den Mantel und machte sich auf zur Burg.
Die Prozession der Feuervögel schlängelte sich den Hügel hinunter aufs Stadttor zu. Das Torhaus wurde von der Wache mit Wasser aus dem See benetzt, damit es den Flammen widerstehen konnte. Auch die versammelten Zuschauer begannen, das Wasser aus ihren Kesseln an die Fassaden der Häuser an der Königsstraße zu werfen. Der Flammenzug erreichte die steinerne Brücke, die den Fluss an jener Stelle überspannte, wo er aus dem See floss.
Agadmodar blickte zur Spitze der Prozession, zum Leitvogel, und kniff die Augen zusammen. Noch konnte er keine Gestalten ausmachen in dem hellen Schein, der sich durch die Finsternis schälte, doch die Wärme war bereits zu erahnen.
„Gibt es Ärger?“, hörte er eine Stimme vorne unter sich fragen. Dralon hatte sich dem Weißen Ritter zugewandt.
„Nichts, was Euch kümmern müsste, Wappnerich“, sagte Agadmodar.
„Ich kann den König nicht auf seinem Platz entdecken.“ Dralon wies zur verwaisten Loge neben der des Weißen Ritters. „Will er sich das Spektakel entgehen lassen?“
„Er kehrt wohl noch den Scherbenhaufen, den Ihr mit Eurem Zollstreit verursacht habt.“
„Agad, Agad, zum Streiten braucht es stets zwei.“ Dralon bleckte die Zähne. „Das habt Ihr uns in den Zentaurenkriegen gepredigt, erinnert Ihr Euch?“
Der Weiße Ritter wandte den Kopf ab. Er spürte den Blick des Wappnerichs auf sich ruhen, entgegnete jedoch nichts.
„Da“, rief jemand in der Menge, „Prinz Varvan!“ Ein Johlen brandete die Allee entlang und zum Weißen Ritter hoch. Er erhob sich, so wie viele andere, um besser sehen zu können.
Der Leitvogel wurde von drei Gestalten getragen, alle in feuchte Tücher gehüllt. Die Kinder in der Menge sprangen vor und benetzten die Träger mit Wasser, dann zogen sie sich zurück zu den Rockzipfeln ihrer Mütter, weg von Rhovarrs Hitze.
Den gesamten Lyrstag über hatten die jungen Lyrgarder an den Feuervögeln gebaut: Holzkonstruktionen in der Form von Vögeln, gefüllt mit noch mehr Holz, auf dass sie gut und lange brennen würden, zur Freude und Ehre von Rhovarr, dem Herrn des Zorns, Gott aller Krieger. Manche Vögel hatten erkennbare Köpfe, Flügel, Krallen und Schweife, andere waren kaum mehr als umgekehrte Dreiecke an Haltegestellen.
Prinz Varvan trug den Leitvogel an der vorderen rechten Stange. Als die Prozession für einen Herzschlag lang zum Stehen kam, wie sie es nach jedem siebten Schritt tat, reckte er den linken Arm in die Höhe, um die Zuschauer zu grüßen. Hunderte von Kehlen riefen seinen Namen, Varvan, Varvan von Lyrgard, Sternenprinz, Varvan der Erleuchtete.
Agadmodar spürte, wie sein Emon Stolz in ihm aufwallen ließ. Varvan war mehr als der Thronfolger von Seenstätten: Sein Verstand war schärfer als die Klinge eines Bärnfelser Söldners, sein Gesicht anmutiger als der Tanz einer Elfe. Er war ein begabter Emone und Träger des Kristallstabs von Aladur. Vor allem aber war Varvan ein guter Mensch. Er würde das Reich in eine strahlende Zukunft führen, wenn sein Vater dereinst abdankte. Bis dahin hätte Agadmodar das Vergnügen, Varvan in den Wegen der Staatskunst auszubilden, denn Varvan würde im ersten Frühlingsmond zum Weißen Knappen geschlagen.
Die linke vordere Tragestange besetzte Larima, Varvans Verlobte. Als Agadmodar sie erblickte, stiegen Tränen in seine Augen: Dass seine Tochterstochter den Prinzen von Lyrgard ehelichen würde, bedeutete ihm wenig – doch dass sie in Varvan einen Mann gefunden hatte, den sie liebte, und der ihre Liebe erwiderte, bedeutete ihm alles.
„Schade, dass Euer Küken nicht meinen Sohn erwählt hat“, sagte Dralon und riss den Ritter aus seinen Gedanken. Der Wappnerich wies auf den jungen Mann an der hinteren Tragestange. „Lerian wäre ihr ein guter Mann gewesen. Er hätte Sarennis Lust in ihr geweckt und ihr die Flausen ausgetrieben. Er hätte ihr gezeigt, wo ihr Platz ist, wie es ein guter Mann tut. Aber gegen einen Prinzen kommt selbst ein von Fährnstieg nicht an.“
„Ihr vergesst Euch, Wappnerich. Schweigt, wenn Ihr nicht wünscht, dass ich Euch gleich Euren Platz zeige.“
Dralon hob abwehrend die Hände. „Verzeiht, edler Paladin. Ich kenne meinen Platz sehr gut und werde Euch nicht länger behelligen.“
Agadmodar entging der spöttische Unterton in Dralons Rede nicht, doch er beschloss, den Wappnerich nicht länger zu beachten. Dass Dralons Sohn den Leitvogel mit Prinz Varvan und Larima tragen durfte, war eines von vielen Zugeständnissen im Zollstreit gewesen. Im Gegenzug hatte Dralon hundert kräftige Tagelöhner anwerben müssen, die Lyrgards Stadtmauer reparierten. Die Zentaurenkriege hatten Spuren hinterlassen, und der Zollstreit hatte den Wiederaufbau aufgehalten. Agad starrte hoch zur Burg in die Dunkelheit. Wo blieben Vidan, Raxana und das Königspaar?
„Urta“, rief er. Die Ritterin in der pflaumenfarbenen Rüstung schälte sich aus der Dunkelheit und stellte sich neben ihn. „Wo bleiben alle? Gleich kommt Prinzessin Tilda.“
Urta zuckte mit den Schultern. „Gerschal sagt, die Königin fühlte sich letzte Nacht unwohl. Womöglich hat ihr altes Leiden zugeschlagen. Soll ich nachsehen?“
„Ich habe Vidan losgeschickt. Dich habe ich gerufen, weil ich wissen will, was dein Emon sagt.“
Urta schwieg und horchte in sich hinein. Die Hitze der brennenden Vögel schlug hoch zu den beiden Rittern.
Agadmodar wandte sich der Prozession zu. Prinzessin Tilda trug den zweiten Feuervogel mit geradem Rücken und erhobenem Haupt. Agad sah, wie sie zur Tribüne hochblickte. Die wilde Prinzessin reckte den Hals und vergaß beinahe die Pause nach dem siebten Schritt. Es musste für die feuerumstrahlten Träger schwierig sein, etwas zu erkennen, doch Tilda schien die Abwesenheit ihrer Eltern zu spüren.
„Nun?“, sagte er und wandte sich Urta zu. „Was denkst du?“
„Ich denke, das Königspaar braucht eine gute Erklärung für ihr Fernbleiben, wenn sie nicht wollen, dass Prinzessin Tilda heute Abend Rhovarr entfesselt.“ Urta grinste schief, was ihrer Hasenscharte geschuldet war, doch es passte zur verschlagenen Ritterin.
Agad sah sie streng an. „Was sagt dein Emon, Urta.“
Das Grinsen wich einer besorgten Miene. „Dass ich rennen soll“, flüsterte die Violette Ritterin. „Rennen wie die Maus und der Hase, fort aus Lyrgard, fort von deiner Seite.“
Agad nickte. „Und warum sagt es das?“
Urta legte den Kopf schief. „Du kennst mein Emon, Agad. Vi’Enn sagt der Maus und dem Hasen, dass sie rennen sollen, aber nicht, warum sie rennen sollen. Das erschließt sich früh genug. Wer inne hält und sich umschaut, verliert wertvolle Zeit.“
„Und was wirst du tun?“
Urta atmete tief durch. „Ich glaube an dich und unser Prisma, Agad. Solange du meinen Glauben nährst, wirst du mich nicht rennen sehen.“
„Sage den anderen, sie sollen sich bereithalten. Wenn etwas geschieht, bringen wir die Königskinder in Sicherheit. Ich kümmere mich um Varvan, du und Fentan bändigt Tilda. Gerschal bringt Fibb hoch zur Burg. Verstanden?“
Urta deutete eine Verbeugung an und verschmolz mit den Schatten.
Der dritte Feuervogel wurde von den Söhnen einflussreicher Wappneriche getragen. Neben ihnen her trabte der jüngste Prinz, Fiselbert, von aller Welt Fibb genannt. Er bemühte sich, die Pause nach dem siebten Schritt ebenso einzuhalten wie die Träger, doch da es schwer war, mit den großen Männern und Frauen Schritt zu halten, sprang er den siebten und den ersten Schritt, um Boden gutzumachen. In der Hand hielt er ein Windrad, das er am Morgen mit seiner Zofe gebaut hatte.
Die Rufe für Prinz Fibb waren ebenso laut wie die für seinen älteren Bruder. Varvan war der Held, der Lyrgard eines Tages mit Mut und Macht beschützen würde, der Held, zu dem man aufblickte und sich in seinem Glanz sonnte. Fibb war der schüchterne Junge, in dessen runden Augen man kein Übel zu entdecken vermochte, der Junge, den man in den Arm schließen und für ihn sorgen wollte. Varvan war ein guter Mensch; Fibb machte andere zu guten Menschen.
Ein Knall riss Lyrgard aus dem winterlichen Traum: Einer der Feuervögel weiter hinten im Zug war geborsten und spie Funken und Flammen in die Menge. Agadmodar streckte sich, um mehr zu erkennen. Die Menschen lachten und zeigten auf jene, die hüpften und tanzten, um die glimmende Asche auf ihrer Kleidung abzuschütteln. Ein zweiter Knall erstickte die Lacher: Auch der nächste Feuervogel explodierte und regnete Feuer auf die Lyrgarder nieder.
Agad schaute nach links, zum Leitvogel, zu Varvan. Die Spitze der Prozession erreichte den Vorhof der Burg und der Vogel brannte, wie er sollte. Agad lief los, bevor er die Schreie der Menschen hörte, bevor der dritte Knall die Luft zerriss, bevor Dralons Tagelöhner die Lumpen von ihren Leibern rissen und die Dolche zückten, und doch spürte er, dass er zu spät kommen würde.
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